Am Beispiel eines Zitats aus einem Essay, der sich mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil bezüglich des EZB-Anleihenaufkaufprogramms (_PSPP: „Public Sector Purchase Programme“_) beschäftigt, läßt sich ausschnittsweise das vielfältige Problem sowohl von Entscheidungsfindungen und von der Beurteilung der Ergebnisse solcher „Findungen“ in der lobbykratischen Gesellschaft zeigen. Das hier interessierende Zitat lautet:
[…] Die EZB erklärte, dass es das Ziel des Ankaufprogramms sei, die zu niedrige Inflationsrate auf 2% anzuheben – dass Preisstabilität eine geringe Inflationsrate erfordert, steht keineswegs in den Verträgen, das 2%-Ziel ist eine willkürliche Setzung durch die EZB auf Basis monetaristischen Denkens, und die Vermeidung von Deflation könnte an sich schon Wirtschaftspolitik sein […].
In einer „entwickelten“ Lobbykratie kann man so etwas offenbar sagen, ohne Irritation bei Vertretern einer solchen Gesellschaft auszulösen, denn was diese sagen entspricht ja dem, was sie zu wissen meinen. Daß solche Aussagen die Masse der Bevölkerung dann auch nicht irritiert ist normal, da sie ihre Informationen von den lobbykratischen Vertretern vorgesetzt bekommt. Denn wäre das anders, handelte es sich nicht um eine lobbykratische, sondern vielleicht tatsächlich um eine demokratische Gesellschaft.
Wie dem auch sei, eine solche zitierte Aussage verdeutlicht kraß, wie wenig die Bedingungen verstanden sind, die eine Marktwirtschaft zu ihrem Funktionieren benötigt, obwohl die Vertreter der lobbykratischen Gesellschaft behaupten, genau zu wissen, wie „Marktwirtschaft“ funktioniert. — Warum? Weil ein statistisch ermittelter Inflationswert die Preisentwicklung in der Vergangenheit abbildet, läßt sich deshalb auch nicht von Preisstabilität sprechen, wenn man nicht eine gewisse Inflation in die Überlegung mit einbezieht. Das bedeutet auch, daß es Ausdruck von sinnfreier Gedankenakrobatik ist, das Setzen eines Inflationsziels als mögliches Betreiben von Wirtschaftspolitik zu bezeichnen. Denn weiß man immer erst im nachhinein, ob in einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft
(_und es wird doch behauptet,
daß die westlichen Gesellschaften
Marktwirtschaften seien, oder?_)
tatsächlich Inflation oder Deflation vorherrscht, muß es einen „Inflationspuffer“ geben, da man andernfalls gesamtgesellschaftlich bereits im Deflationsloch liegen könnte, ohne darum zu wissen.
Was an dem 2%-Inflationsziel der EZB willkürlich ist, sind die 2 Prozent. Denn es könnten auch 3 oder 4 Prozent sein. Abgesehen davon, daß jedes gesellschaftspolitische Element willkürlich gesetzt ist, es also auf die Intention ankommt, wieso man sich für dieses oder jenes entscheidet, ist die Festlegung eines Inflationsziels als solches in einer Marktgesellschaft keine Frage der Willkür, da es für eine solche Gesellschaft absolut notwendig ist, da andernfalls nicht rechtzeitig gegengesteuert werden kann, bewegt sich eine preisliche Entwicklung gegen Null. Denn ist, wie bereits deutlich gemacht, die Inflation (_oder Deflation_) ein statistischer Wert, weiß man immer erst etwa einen Monat später, wie die Preisentwicklung im Vormonat war. Vor dem Hintergrund dieses Wissens kann die Festlegung eines „Preisstabilitätsziels“, das einen Nullwert als Maßstab nimmt, eine Gesellschaft bereits in ein deflationäres Loch gestürzt haben, ohne daß ihre politischen Entscheidungsträger rechtzeitig darum wüßten.
Zwar ist es richtig, daß ein Inflationsziel nicht in den „EU-Verträgen“ steht, das bedeutet aber nicht, daß deshalb dessen Setzung als vertragswidrig anzusehen wäre. Hingegen hängt das zum einen damit zusammen, daß es keine genaue Definition von Preisstabilität gibt. Und zum anderen? Vielleicht deshalb, da gewisse Ideologen meinen, es sei unanständig, überhaupt ein gewisses Maß an Inflation als staatliches Ziel zu definieren?
Tatsächlich kann man aber leicht erkennen, daß eine moderate Inflation Bedingung für Preisstabilität ist. Das nicht zu erkennen, liegt wohl daran, daß so viele Menschen mit einer „statischen Vorstellung“ von Stabilität an gesellschaftliche Prozesse herangehen. Daß das so ist, liegt aber daran, daß sie ihre Informationen von neoliberalen Ideologen bekommen, die praktisch alle relevanten Positionen in der Gesellschaft besetzt halten: politisch, „wissenschaftlich“, journalistisch, kulturbetrieblich. Richtig schlimm wird eine „statische Vorstellung“ von Stabilität aber dann, wenn diese Ideologen, und damit die von ihnen beeinflußten Menschen, zudem noch mit dem geschlagen sind, das man „Inflations-Angst“ nennt und Ausdruck einer kollektiven Neurose ist. Das wäre noch akzeptabel, würden diese kollektiven Neurotiker andere nicht mit ihren Wahnvorstellungen belästigen, sondern diese für sich selbst, d.h. hinter einem Zaun, ausleben wollten. Immerhin hat deren neurotische Angst damit zu tun, daß deren Ideologen nie versucht haben, der Ursache dieser Hysterie nachzugehen, d.h. der Ursache der Hyperinflation nach dem ersten Teil des großen Krieges des 20. Jahrhunderts. Geradezu gefährlich wird es dann, wenn diese Neurotiker andere zwingen wollen, ihrem Sonderweg zu folgen, da der ein Holzweg ist.
Eine „statische Vorstellung“ von Stabilität in dem Bereich einer Gesellschaft zum Prinzip zu erheben, der die materielle Basis einer Gesellschaft darstellt — nämlich die Wirtschaft — und der zudem in sich dynamisch ist, da materielle Basis einer Marktgesellschaft, bedeutet, Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Charakter eines „gesellschaftspolitischen Korsetts“ haben. So werden ideologische Rahmenbedingungen geschaffen, die gesamtgesellschaftliches Prosperieren geradezu verunmöglichen. Und dies ist typisches Ergebnis „lobbykratischen Denkens“.
Wenn aber eine Marktwirtschaft einen Inflationspuffer“ braucht, bedeutet dies, daß Preisstabilität ein relativer Begriff ist und daß relative Preisstabilität _und_ wirtschaftliche Entwicklung zwei Seiten derselben Medaille sind: Was die eine Seite zeigt, hängt von der anderen ab.
Was aber bedeutet „Preisstabilität“ aus Sicht der EZB?
Es gibt mindestens drei Aussagen, aus denen das nachvollziehbar hervorgeht:
Definition von „Preisstabilität“, die von den Verantwortlichen in der EZB selbst stammt:
[…] Price stability shall be defined as a year-on-year increase in the Harmonised Index of Consumer Prices (HICP) for the euro area of below 2%. […]
Diese Definition von „Preisstabilität“ entstammt der EZB-Pressemitteilung vom 13. Oktober 1998, die den Titel trägt: A stability-oriented monetary policy strategy for the ESCB, und findet sich dort unter dem Punkt 2, abrufbar über folgende […] Internet-Anschrift.
(_„HICP“ ist [_übrigens_] der HVPI, der „Harmonisierte Verbraucherpreisindex“, bei dem es sich um einen Inflationsindex handelt, der die Inflationsentwicklung in der gesamten EU abbilden soll._)
In einer weiteren, die Geldpolitik der EZB betreffenden Mitteilung, die mit: Benefits of price stability betitelt ist, in der es also um die „Vorteile von Preisstabilität“ geht, kommt deutlich zum Ausdruck, daß sowohl Inflation als auch Deflation zu vermeiden seien: price stability […] implies avoiding both prolonged inflation and deflation. In dieser ganzen Stellungnahme ist übrigens immer von zu vermeidender Inflation _und_ von zu vermeidender Deflation die Rede — niemals aber lediglich von zu vermeidender Inflation.
Dennoch kommt zum Ausdruck, daß Preisstabilität am besten über eine jährliche, moderate Preissteigerung zu erreichen sei:
„Preisstabilität versteht sich als eine jährliche Steigerung des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) von unter 2 Prozent in der Eurozone“ (__vgl. das obige Zitat__).
Überdies wird in dieser Erklärung anerkannt, daß es keine klare Definition gäbe, was unter „Preisstabilität“ zu verstehen sei, der AEU-Vertrag […] dies nämlich offenlasse.
Wie dem auch sei, der EZB-Rat verweist in dieser Stellungnahme dann auf die oben schon erwähnte Definition von Preisstabilität. (_Vgl. Benefits of price stability, eine Stellungnahme der EZB, die unter der folgenden […] Internet-Anschrift abrufbar ist.
Ein weiteres […] Beispiel für die Kopplung von „Preisstabilität“ an eine moderate Inflation findet sich in der diesbezüglichen, aus dem Jahre 2003 stammenden, im Auftrag der EZB von Otmar Issing et al. verfaßten Schrift: Background studies for the ECB’s Evaluation of its Monetary Policy Strategy, wenn es dort u.a. auf der Seite 6 heißt: ‘[…] Im Streben nach Preisstabilität, stellt der EZB-Rat klar, daß er darauf abzielt, die Inflationsrate niedrig, allerdings mittelfristig nahe bei 2% zu erhalten. Es gibt mehrere wohlbegründete Argumente, eine geringe Inflationsrate zu dulden und nicht auf eine Null-Inflation abzuzielen. Entscheidend ist einzig die Notwendigkeit eines Sicherheitsabstands gegen das potentielle Deflationsrisiko. Im Zusammenhang mit einer hartnäckigen Deflation kann die Geldpolitik weniger wirkungsvoll werden, wird die Lenkung des Leitzinses durch eine „Liquiditätsfalle“ [__eine allgemeine Zahlungsunfähigkeit__] beschränkt oder ein „Null-Prozent-Leitzins-Problem“. Untersuchungen der EZB […] zeigen, daß solche Beschränkungen keine erhebliche Gefahr darstellen, sofern die Inflation hinreichend über null bleibt. Eine Inflationsrate von unter, aber nahe bei 2%, bietet diesbezüglich einen [__hinreichenden__] Schutz und berücksichtig zugleich sowohl die potentielle Möglichkeit von Meßfehlern im HVPI als auch die Konsequenzen strukturell bedingter Inflationsunterschiede in der Eurozone. […]’ (_Quelle dieses Zitats: Background Studies for the ECB’s Evaluation of its Monetary Policy Strategy, hg. von Otmar Issing in Zusammenarbeit mit Ignazio Angeloni, Vítor Gaspar, Hans-Joachim Klöckers, Klaus Masuch, Sergio Nicoletti-Altimari, Massimo Rostagno und Frank Smets, European Central Bank, November ’03, Seite 6. (__Eigene Übersetzung.__) Siehe dazu diese Internet-Adresse […]._)
[…] Demnach trägt eine geringe Geldentwertung einerseits zur „Preisstabilität“ bei und andererseits fördert sie Investitionen, die die Bedingung dafür sind, daß eine Realwirtschaft überhaupt erst prosperieren kann. Folglich ist „Preisstabilität“ über den paradox erscheinenden Fakt einer _mäßigen_ Geldentwertung zu gewährleisten, die demnach als „gute Inflation“ zu bezeichnen wäre. […]
Quelle: [1]
(_Diese Definition von Preisstabilität ist
die einer jeden modernen Zentralbank,
die, da immer staatliche Institution,
ihre Aufgabe so verstehen muß,
daß die Gesellschaft,
für die sie zinspolitisch,
und damit wirtschaftspolitisch, verantwortlich ist,
als Ganzes prosperieren kann._)
Übrigens ist es für eine „entwickelte“ Lobbykratie auch typisch, daß diese Aussage von Herrn Issing Jahre später von ihm vergessen wurde, als er sich nämlich in einer „Stellungnahme“ darauf beschränkte zu sagen, daß ein Inflationsziel von 2% nicht in den „EU-Verträgen“ enthalten sei. — Mir mißfallen solche heuchlerischen Saubermänner sehr.
Überdies bin ich der Meinung, daß Kleinkriege zwischen Richtern, wie der zwischen denen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs seit Jahren schwelende, weder dem Demokratie-Gedanken noch für prosperierende Gesellschaften förderlich sind. Denn weder das eine noch das andere läßt sich über einen EuGH als Teil einer neoliberalen supranationalen EU, mit ihren nationalstaatlich organisierten Subeinheiten, noch über ein Bundesverfassungsgericht, als Teil einer solchen neoliberalen Subeinheit, verwirklichen oder sichern bzw. schaffen. Denn weder das supranationalstaatliche Gebilde EU noch die nationalstaatlichen Subeinheiten dieses Gebildes sind nach demokratischen Kriterien strukturiert. Das bedeutet, daß nicht nur die Richter des EuGHs, sondern bspw. auch die Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht demokratisch legitimiert sind. Denn beide Richtergruppen sind ausgekungelte Persönlichkeiten von parteistaatlichen Kungelrunden, von deren Art und Weise des Kungelns nichts als das Ergebnis nach außen dringt … es sei denn, „etwas“ soll nach außen dringen.
In demokratisch organisierten Staaten werden Richter aber nicht von ausgekungelten Vertretern von Parteien ausgekungelt, sondern sie werden von der Bevölkerung direkt per politischem Losverfahren bestimmt.
Man könnte daran übrigens erkennen,
daß nichts anderes als ein politisches Losverfahren
für _alle_ gesellschaftlich relevanten Entscheidungs- und
Beratungspositionen zu gelten hätte,
und zwar beginnend auf der Dezernentenebene von Kommunen,
wollte man tatsächlich von Demokratie sprechen.[2]
Alles andere führt zu parteistaatlichen Konstrukten,
in denen Demokratie simuliert werden mag.
Im übrigen wäre die Pandemie eine einmalige Chance, die als fortschrittlich geltenden gesellschaftspolitischen Gebilde, die man auch als „westliche Demokratien“ oder gar als „Elitestaaten“ der Welt bezeichnet, in nachhaltig prosperierende Gesellschaften zu verwandeln.[3] Eine Bedingung dazu wäre, sich aus den Klauen des privaten Finanzmarktes zu befreien. Das aber zu können setzte voraus, die Funktionsweise des modernen Geldsystems zu verstehen.[4] Es ist aber das Unverständnis von dieser Funktionsweise so weit verbreitet, daß zu vermuten berechtigt ist, daß es keinen Bereich gibt, in dem größere Übereinstimmung zwischen der Meinung der Masse der Bürger und der lobbykratischen Politik herrscht. Leichtes Spiel für Lobbyisten.
© Joachim Endemann (_EndemannVerlag_)
In meinen Büchern habe ich mich beizeiten mit jenen
Tendenzen und Strömungen auseinandergesetzt,
die an der Basis dessen wirken, das jetzt offen zutage tritt.
_1 Siehe in Die tri_logische Sezierung des lobbykratischen Zeitalters, Band I, Tbb 1-3, Kapitel 10: „Zwischen Nationen kann es keinen Wettbewerb geben, der dem zwischen Unternehmen vergleichbar ist“, die Seiten 251 und 254-57.
_2 Was Direkte Demokratie bedeutet und was die benötigt, findet der interessierte Mensch in: Sie fragen noch, wie die «Verhältnisse» liegen? erläutert. Dieser seltene Mensch möge diesbezüglich dort mit Aspekt 2: „Was eine Passage in Chestertons: ‘The Man who was Thursday: A Nightmare’ offenbart“ beginnen, da diese Passage einen Einblick in etwas eröffnet, das in doppelter Hinsicht aufschlußreich ist, und Aspekt 32: „Die erste Demonstration der unbewußten Real-Satiriker ereignete sich am 19. Mai 2019“, dort die Seiten 337 ff., beginnend mit: „folgendes ist keine politische Geschmacksfrage“, sowie die Seite 669, beginnend mit: „Also sei zum Abschluß nicht allein die Frage wiederholt: Was spricht noch gegen Direkte Demokratie, spricht nichts für die simulierte Demokratie des lobbykratischen Systems …[…]?“.
_3 Siehe dazu Die tri_logische Sezierung des lobbykratischen Zeitalters, Band I, Tb 4: „Der Lösungsweg“. Ebenso in: Sie fragen noch, wie die «Verhältnisse» liegen? Perspektive 3: „Läßt sich das Klima leugnen?“