Kommentar zu einem Auszug aus dem Vorwort von Peter Wahls Buch, „Gilets Jaunes. Anatomie einer ungewöhnlichen sozialen Bewegung“

Mein Kommentar bezieht sich auf einige
der Aussagen im Auszug des Buchs von Peter Wahl.

Daß sich die Gilets Jaunes formale Strukturen geben werden ist nicht anzunehmen, da es ihrem Selbstverständnis widersprechen würde. Daß sie grundsätzlich etwas gegen politische Repräsentanz hätten, ist eine Annahme, die genauso unbegründet ist.

Nur sprechen die Erfahrungen eine andere Sprache, meint übrigens eine große Mehrheit der Franzosen. Natürlich nicht die 16%, die Herrn Macron _wegen_ seines Programms gewählt hatten, oder die Deutschen, die, was ich so höre, tatsächlich der Meinung sind, sie lebten in einer Demokratie … sogar in einer „gesicherten“ — wie ihnen erzählt wird.

Nun ja, vielleicht liegt’s ja auch an einer Wahrnehmungsstörung? Scheuklappen können eine solche an sich zwar verursachen, da aber eine solche Störung nicht weiter wahrgenommen werden kann, werden die kollektiv getragen, muß die Wahrnehmungsstörung bei mir liegen …

Für die Franzosen (__quasi alle Schichten betreffend__) sind die Erfahrungen jedenfalls derartig, und bis in die 2000er Jahre zurückreichend, als es ein Referendum gab, in dem sich eine deutliche Mehrheit gegen die Annahme eines EU-Verfassungstextes aussprach (__noch deutlicher war in diesem Zusammenhang übrigens das Ergebnis in den Niederlanden__), sowie der politische Umgang damit, daß sie auf diese Weise den richtigen Eindruck gewonnen haben, daß an einem System etwas nicht stimmen kann, das zwar behauptet, die Bevölkerung zu repräsentieren, aber in der praktischen Politik das Gegenteil beweist, also primär Partikularinteressen bedient werden und dann noch behauptet wird, daß müsse so sein.

Es ist für die Gilets Jaunes, die von der Masse der Franzosen durchaus als Bewegung für eine demokratische Erneuerung begriffen wird, nur die Frage:

Wie ist es zu ermöglichen, daß die Wahrscheinlichkeit, daß jemand, der als Repräsentant (__auf welcher politischen Ebene auch immer, ob also kommunal, regional, landesweit oder EU-weit__) eine Bevölkerung zu _vertreten_ hat, dies nicht mißversteht und glaubt, daß das am besten dadurch zu gewährleisten sei, ihr jenes als für sie richtig und gut (__am besten noch mit einem gewissen „Sachzwang“ garniert__) zu verkaufen, das tatsächlich andere hinter verschlossenen Türen im Interesse weniger längst entschieden haben?

Das zu gewährleisten, gibt es nur zwei politische Elemente, also neben Referenden. Irgendeine Idee, welche das sein könnten? Ich frage deshalb so, da offenbar die meisten immer noch der Meinung sind, daß das, was wir in der EU und ihren Mitgliedstaaten haben, irgend etwas mit Demokratie zu tun hätte.

Das „Rotationssystem“ der anfänglichen Grünen als Beispiel für eine demokratische Erneuerung zu verstehen, wäre allerdings völlig falsch, da das ganze „politische ‚Wahlverfahren'“ als solches das Problem ist.

Das systemisch bedingte Problem ist in Frankreich nur früher deutlich geworden als in Deutschland (__40% der Deutschen sind von der Politik enttäuscht, 38% der Franzosen. Wo liegt der Unterschied? Nun, in Frankreich ist man schon einen Schritt weiter, da dort die Enttäuschung längst in „Wut“ umgeschlagen ist: zuerst kommt die Enttäuschung, dann die Wut … gewiß, auch in Anhängigkeit vom Alter.__).

Immerhin ist das Problem wesentlich mit der EU-Struktur und einer EU-Funktionselite verbunden, die sich mehr und mehr in Opposition zur Bevölkerung setzt, und dann auch noch davon redet, es seien die „Abgehängten“, die da jetzt auf die Straße gingen … die müsse man „mitnehmen“.

Irgendeine Idee, wo „ihr“ hin wollt, also abgesehen von „eurem Projekt“, müßte man diese „Elite“ fragen, denn, ist die ganze Richtung falsch, ist das der völlig falscher Ansatz!

Diese Elite träumt einen Traum, der ein Alptraum ist: die Idee (__ihr mit quasi religiösem Eifer verfolgtes „Projekt“__), aus der EU einen Bundestaat zu zimmern.

Dabei ist doch offensichtlich, daß dieses Gebilde völlig ungeeignet ist, den gesellschaftspolitischen Bedürfnissen in den Mitgliedstaaten gerecht zu werden, und außenpolitisch hat es in der Vergangenheit nicht bewiesen, die Welt friedlicher zu machen, deshalb ist das auch nicht für die Zukunft anzunehmen.

Folglich ist die Gilets Jaunes-Bewegung als das zu begreifen, was sie ist: die erste schwere Reaktion gegen die EU und ihr Regime: _wegen_ ihrer grundsätzlich anti_demokratischen Basis und der entsprechend ausgeübten Politik. Denn was anderes tut das Macron-Regime, als EU-Politik zu exekutieren?

Diese EU-Politik verlangt geradezu, daß Demokratie simuliert, nicht daß sie praktiziert wird. Was aber tun jene Parteien, die behaupten, „links“ zu sein? Sie stellen sich auf die Seite der EU-Funktionselite, und damit sind sie selbst Teil dieser Funktionselite.

Jeder, der es mit der Demokratie ernst meint, muß zunächst erkennen, daß die EU nicht im demokratischen Sinne reformiert werden kann. Denn dieses orwellianische Imperium des Friedens hatte nicht irgendwann, sozusagen unglücklicherweise, eine neoliberale Agenda verpaßt bekommen, wäre also vorher eigentlich richtig demokratisch gewesen (__wäre also tatsächlich so rudimentär demokratisch gewesen, wie man es hier schon als höchsten Ausdruck von Demokratie „erlebt“ — macht man sein Kreuzchen nur brav__),

_sondern_

diese seltsame politische Entität ist von ihrer ganzen Anlage her, d.h. seit ihrer Gründung 1992/93, ein neoliberales Projekt.

Man täte folglich auch gut daran, den Brexit als das zu verstehen, was er ist: Ausdruck dessen, was von manchen als „fugitive democracy“ bezeichnet wird und ich mit „momenthafte Demokratie“ übersetze.

Allerdings bin ich nicht der Meinung, daß sich Demokratie lediglich im „Momenthaften“ ausdrücken könne — ganz im Gegenteil! _Dieses_ Momenthafte ist eher als Reaktion auf den Mangel an Demokratie zu verstehen und bekommt deshalb auch etwas „Eruptives“.

Allerdings läßt sich sagen, daß im Brexit das
Potential für demokratische Erneuerung liegt
— die aber offenbar nicht mit Labour zu machen wäre
… was mich auch gewundert hätte.

In der Eurozone liegen die Verhältnisse anders, deshalb muß dort auch das Vorgehen ein anderes sein. In der Gilets Jaunes-Bewegung drückt sich jedenfalls der richtige Ansatz aus: Erneuerung von unten, da alle Parteien diskreditiert sind.

Was hinzutreten muß, ist das Verständnis von dem, was man Wirtschaftspolitik nennt — und dann die Anwendung des geeigneten Werkzeugs, die EU-Zwangsjacke zu knacken …

(__Dazu hatte ich mir erlaubt, innerhalb von vier Wochen ein Buch zu schreiben, gedacht als Hommage an die Gilets Jaunes, das dann am 17. Januar unredigiert als eBook herauskam, kostenfrei bis Anfang September zu downloaden war, jetzt in Korrekturlesung ist und vermutlich Anfang 2020 redigiert erscheinen kann. In diesem Buch ist alles notwendig zu Wissende angerissen, wollte man, bspw. einen Frexit erfolgreich gestalten. Für dieses Buch kann es in Deutschland aber keinen Bedarf geben, da da alles demokratisch und überhaupt i.O. ist, obwohl doch jeden Tag die Misere größere wird — woran mag das nur liegen? —, so daß es sich von selbst versteht, daß dieses Buch auf Französisch geschrieben ist.__)


1_ Darauf gehe ich in meinem neuen Buch ein, daß heißt in einem seiner „Aspekte“ kommentiere ich einen von mir übersetzten Essay, der am Beispiel des Brexits verdeutlicht, was unter „fugitive democracy“ zu verstehen ist. Dieses Buch wird wahrscheinlich Anfang November erscheinen. _zurück_

© Joachim Endemann (__EndemannVerlag__)

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Immerhin habe ich mich darin mit jenen
Tendenzen und Strömungen auseinandergesetzt,
die an der Basis dessen wirken, das jetzt offen zutage tritt.
— Das heißt diese Auseinandersetzung erfolgte beizeiten
.