Paul Steinhardt: «Italienische Kreditsucht und deutsche politische Reife»

Makroskop _ 24.04.2020: Paul Steinhardt 

[…] Was soll man als intelligenter und moralisch integrer Italiener noch sagen, wenn man von Bundesbankpräsident Jens Weidmann den folgenden Satz um die Ohren gehauen bekommt?

„Man vertraut Anderen doch seine Kreditkarte nicht an, wenn man keine Möglichkeit hat, deren Ausgaben zu kontrollieren.“

Wahrscheinlich besser nichts mehr. Man sollte einfach nur noch schnell die Flucht ergreifen. […]


Wer nach Coronabonds ruft, ist ein Kreditjunkie – so deutsche Marktfundamentalisten. Schon irre! Was aber soll man zu den italienischen Eliten sagen, die noch immer nicht ihre Lektion gelernt haben und dafür ihre Landsleute leiden lassen?

Garbor Steingart hat im deutschen Wirtschaftsjournalismus einen guten Namen. Er war unter anderem Ressortleiter Wirtschaft beim Spiegel und Chefredakteur und Herausgeber des Handelsblatts. Darüber hinaus hat er – wie er uns mit stolzgeschwellter Brust wissen lässt – „neun Bücher verfasst, von denen es sieben in die Spiegel-Bestsellerliste schafften“.

Seit der Verleger des Handelsblatts, Dieter von Holzbrinck, sich von ihm Anfang 2018 recht abrupt und unter Widerstand der Redaktion des Handelsblatts getrennt hatte, betreibt er einen Blog, der vom Springer-Verlag großzügig gesponsert wird. Mit seinem sogenannten „Morning Briefing“ beansprucht Steingart – in der ihm ganz eigenen bescheidenen Art – „mit Scharfsinn und Sprachwitz über das Weltgeschehen zu informieren“.

Was Steingart aus Italien berichtet

Nun gibt es sehr viele Orte und noch mehr Geschehen auf dieser Welt. Kein Wunder also, dass von seinem „Scharfsinn“ und „Sprachwitz“ auch Italien nicht verschont bleibt. Von seinem Besuch dort übermittelte er für besonders Eilige die folgende Zusammenfassung seines Berichts:

„Man könnte meinen, das Lieblingsgericht der italienischen Elite besteht aus frisch gedrucktem Geld, garniert mit einer Stange Dynamit. Dass diese Kost schon bisher nicht bekömmlich war, scheint den römischen Patienten nicht zu stören. Er windet sich zwar vor Schmerzen – aber verlangt mit fiebrigen Augen Nachschlag. Buon appetito!“

Alleine dieses Zitat belegt schon, woraus die von ihm angepriesenen Zutaten seiner „Berichte“ bestehen. Es ist ein unverdauliches Gemisch aus Arroganz, Denunziation und ökonomischem Unsinn. Wenn man sich also nicht gründlich den Magen verderben will, gibt es gute Gründe, vom Konsum seiner Berichte Abstand zu nehmen.

In seinem „Morning Briefing“ über Italien muss man aber eine Ausnahme machen. Denn in diesem Pamphlet geht es um die Abwehr der Forderungen der „Südländer“ nach Coronabonds. Dabei trägt er in kompakter Form sämtliche von deutschen Politikern und Medien gepflegten Vorurteile vor. Auf dieser Basis gelingt es ihm tatsächlich, eine irgendwie für viele Bürger wohl rational klingende Ablehnung dieser Forderung vorzutragen. Seine Geschichte geht in Kurzform etwa so:

Wir Deutschen lassen uns von Euch Italiener nicht erpressen. Es ist einfach unanständig, wie die „italienische Elite“ mit der Warnung vor einer Gefährdung der Zukunft Europas oder ihrem Flirt mit Russland und China auf uns Deutsche „Druck ausüben“.

Ihr habt jahrelang schamlos über Eure Verhältnisse gelebt. Ja, die Situation bei Euch ist aufgrund der Pandemie schlimm, aber die Wahrheit muss man trotzdem sagen:

Unser italienischer Freund ist kreditsüchtig und muss sein Leben ändern – spätestens nach der Krise.“

Was Ihr, meine italienischen Freunde, als deutschen „Nationalismus“ bezeichnet, ist bei Licht betrachtet, „Ausweis [unserer] politischen Reife“. Wir sind als großherzige Menschen selbstverständlich bereit, Euch zu helfen. „Aber ohne Blankoscheck, der die Sucht nicht bekämpft, sondern verstärkt.“

Der unverzeihliche Fehler Italiens

Nun gibt es keinen Grund, die „italienische Eliten“ vor Kritik pauschal in Schutz zu nehmen. Niemand hat Italien mit einer Waffe an der Schläfe dazu gezwungen, der Europäischen Währungsunion (EWU) beizutreten.

Bei einer Kritik der Fehler der „italienischen Eliten“ aber sollte man schon bei der Wahrheit bleiben. Den Italienern vorzuwerfen, sie hätten sich nach Eintritt in die Währungsunion wie ein Kreditsüchtiger verhalten, sind Fake-News vom Feinsten.

Betrachten wir uns zum Beleg dieser These die folgende Grafik:

Abbildung 1: […]

Die primären Finanzierungssalden geben Auskunft über die Differenz zwischen staatlichen Einnahmen und Ausgaben. Außen vor bleiben dabei Zinszahlungen. Will man die „politische Reife“ von Regierungen der Eurozone nach deutschen Maßstäben bewerten, dann ist diese Zahl entscheidend; denn die Höhe der Zinsen ist ja von der Geldpolitik der EZB abhängig.

Liegt der Balken über der 0-Linie, dann heißt das, dass eine Regierung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts mehr eingenommen als ausgegeben hat. Balken unter der 0-Linie geben Auskunft darüber, dass ein Staat mehr ausgegeben als eingenommen hat. Da die orangenen Balken für Italien stehen, belegt diese Grafik, wie absurd der Vorwurf ist, das „Lieblingsgericht“ der Italiener sei „frisch gedrucktes Geld“.

In der Sprachwitz-Terminologie Steingarts kurz zusammengefasst: Unser deutscher Freund ist doof.

Wenn staatliches Sparen Ausweis von Vernunft ist, dann ist Italien jedenfalls eindeutig ihre Fackelträgerin. Gut, dass die Italiener die zur „Planification“ neigenden Franzosen hinter sich gelassen haben, mag einen noch nicht so sehr verwundern. Aber wer hätte gedacht, dass zwei vom Geist „solider Finanzen“ geleitete Nationen beim Sparrennen nur noch die Rücklichter der Italiener zu sehen bekommen?

Abbildung 2: […]

Freilich sollte man die „italienischen Eliten“ für ihre Sparwut nicht loben. Ganz im Gegenteil ist Tadel angebracht. Wer nur mit dem einmaleins der Makroökonomik vertraut ist, weiß, dass staatliche Einnahmeüberschüsse einer Volkswirtschaft Nachfrage entziehen und damit prima facie das Bruttoinlandsprodukt reduzieren.

Sind italienische Eliten Sadisten?

Tatsächlich muss man sich große Sorgen um die Italiener machen. Sind ihre „Eliten“ möglicherweise Jünger des Marquis de Sade? Zur Beantwortung dieser Frage schauen wir auf die folgende Grafik, deren Grausamkeit vermutlich nicht auf den ersten Blick zutage tritt.

Abbildung 3: […]

Der reale effektive Wechselkurs ist ein anerkanntes Maß für die preisliche internationale Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Die Grafik belegt, dass die Italiener mit dem Beginn der Währungsunion an Wettbewerbsfähigkeit verloren haben und es ihnen bis heute nicht gelungen ist, diesen Wettbewerbsnachteil wettzumachen. Sie haben aber weiterhin – natürlich nicht ohne häufige Ermahnungen aus Brüssel – folgsam staatliche Überschüsse erwirtschaftet.

Und keiner soll sagen, sie hätten sich nicht wirklich angestrengt. Sie haben sogar auf Weisung der EU ihren Gesundheitssektor „entschlackt“. Im Nachhinein muss man die italienischen Eliten daher wohl für ihre außerordentliche Opferbereitschaft in den höchsten Tönen loben.

Sind aber die Italiener am Verlust ihrer Wettbewerbsfähigkeit nicht doch selber schuld? Ja und nein.

Um diese sybillinische Antwort zu verstehen, muss man wissen, dass der reale effektive Wechselkurs von der Höhe der Inflationsrate abhängig ist. Nun hat sich die EZB ein Inflationsziel von „unter aber nahe 2 Prozent“ gegeben. Wie die folgende Grafik zeigt, lag und liegt die Inflationsrate Deutschlands unter und die Italiens über dem Inflationsziel der EZB.

Abbildung 4: […]

Hat hier vielleicht die EZB ihre Hausaufgaben nicht gemacht? Nimmt man ihren Anspruch Ernst, die Inflationsrate zu steuern, dann muss man diese Frage bejahen. In Wirklichkeit aber kann sie das nicht. Wie wir schon oft gezeigt haben, hängt die Entwicklung der Inflationsraten eines Landes in erster Linie von der Lohnentwicklung im Verhältnis zur Produktivitätsentwicklung ab.

Die folgenden beiden Grafiken zeigen, dass in Deutschland die Lohnentwicklung deutlich niedriger und in Italien etwas höher als die Produktivitätsentwicklung war.

Abbildung 5: […]

Abbildung 6: […]

Kann man dafür die italienische oder gar die deutsche Politik kritisieren? Ohne Zweifel, denn die Politik verfügt über einen umfangreichen Instrumentenkasten, um die Lohnentwicklung zu beeinflussen.

So ist der Niedriglohnsektor in Deutschland nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde durch sogenannte „Arbeitsmarktreformen“ erst ermöglicht. Diese Reformen aber kann man auch wieder rückgängig machen. Sprich, man kann Gesetze erlassen, die auch den unteren Einkommensklassen eine faire Teilhabe am gemeinschaftlich erwirtschafteten Wohlstand erlauben.

Zurück zur Frage dieses Abschnitts. Sie muss man wohl leider mit einem „ja“ beantworten. Anders lässt sich kaum noch erklären, warum sich Italien nun mit Deutschland auf eine Diskussion über Coronabonds einlässt.

Was soll man als intelligenter und moralisch integerer Italiener noch sagen, wenn man von Bundesbankpräsident Jens Weidmann den folgenden Satz um die Ohren gehauen bekommt?

„Man vertraut Anderen doch seine Kreditkarte nicht an, wenn man keine Möglichkeit hat, deren Ausgaben zu kontrollieren.“

Wahrscheinlich besser nichts mehr. Man sollte einfach nur noch schnell die Flucht ergreifen.

Quelle