Der «Realsatirismus» als folgerichtiges «Entwicklungsprodukt» des lobbykratischen Systems

Es ist festzustellen, daß das real existierende lobbykratische System ohne eine spezifische Realsatire nicht denkbar ist. Das ist deshalb so, da diese besondere Art der Realsatire Ergebnis der Gemütslage jener Intellektuellen ist, wozu ich jetzt auch Politiker zähle, es gibt ja immer eine gewisse Begriffsunschärfe, die zur Funktionselite des lobbykratischen Systems gehören oder zumindest potentieller Teil dieser Elite sein könnten. Und da das lobbykratische System diese Gemütslage erzeugt, was die davon Betroffenen bspw. spezifisch realsatirische Sätze schreiben und mitunter sogar sagen läßt, halte ich es für angebracht, diese lobbykratie-typische Realsatire als „Realsatirismus“ zu bezeichnen.

Natürlich, der Realsatirismus ist nur eines der zahlreichen dadaistisch-surrealen Phänomene, die die Lobbykratie gebiert, aber es scheint doch eines zu sein, das nicht vorhanden wäre, gäbe es dieses System erst gar nicht. Denn zwar ist es richtig, daß dadaistisch-surreale Phänomene in allen staatlich organisierten Gesellschaft zu beobachten sind, deren Art der Organisierung von einer Machtelite und deren Satelliten bestimmt wird.


Das ist besonders bei Nationalstaaten augenfällig, die tatsächlich nichts anderes als Staaten sind, die nach betriebswirtschaftlichen Überlegungen organisiert sind und nur deshalb auch bürgerliche Staaten heißen, da der Denkhorizont des dominant gewordenen Teils des Bürgertums von betriebswirtschaftlichen Überlegungen bestimmt wird; machtinstrumental handelt es sich bei solchen Staaten aber lediglich um ein Update des alten machtelitären Herrschaftsprinzips. Beziehungsweise es handelt sich um von Zeit zu Zeit erfolgende Updates, die mit dem Spruch: „Wir brauchen ein neues Narrativ“ eingeleitet werden und mit mehr oder weniger tiefwirkender Geschichtsklitterung einhergehen: vgl. diesbezüglich das Treiben gewisser rechtsradikaler Professoren, die vom deutschen Establishment geschützt werden, behauptend, das sei Ausdruck von „Freiheit der Wissenschaft“: Geschichtsklitterung als Ausdruck von „Freiheit der Wissenschaft“? Wohl kaum, hingegen: das deutsche Establishment will das so. Diese Entwicklung läßt sich übrigens seit dem Ende des Kalten Krieges sehr gut verfolgen.


Das Spezifische am Realsatirismus ist nämlich, daß die davon befallenen Intellektuellen, und das sind praktisch alle, tatsächlich der Meinung sind, daß ein lobbykratisches System mit einem demokratischen System vereinbar sei, bzw. daß lediglich von Zeit zu Zeit an bestimmten Stellschräubchen herumgedreht werden müsse, sozusagen im „systemnachjustierenden“ Sinne.[1]

Ein aktuelles Beispiel:

[…] Könnte die Besinnung auf das Lebensnotwendige, die uns das Corona-Virus aufzwingt, in demokratischen Staaten zu politischen Mehrheiten führen, die stärker das langfristige Wohl aller Menschen und zukünftiger Generationen zur politischen Handlungsgrundlage machen als nur das einzelner, jetzt lebender Interessengruppen? So sehr ich das wünsche, bin ich doch äußerst skeptisch, dass es so kommen wird. Schon die Ergebnisse, die die Finanzkrise 2008/2009 gezeitigt hat, stimmen mich pessimistisch. Wer hätte damals gedacht, dass der Neoliberalismus innerhalb kürzester Zeit fröhliche Urständ feiern würde, obwohl sich viele seiner grundlegenden Annahmen als vollkommen falsch erwiesen hatten? Wer hätte gedacht, dass das Primat der Politik gegenüber der Finanzwelt durch geeignete institutionelle Vorkehrungen nicht ein für alle Mal durchgesetzt würde? […]

Quelle

Ja, wer hätte das überhaupt denken dürfen, der nicht davon ausgeht, daß das, was hier als demokratische Staaten bezeichnet wird, nur deshalb welche wären, weil das so behauptet wird? Ist nicht der Inhalt erst zu prüfen, auch wenn die Verpackung so verheißend ist?

Es ist umgekehrt:

Handelte es sich bei den Staaten, deren Vertreter ja auch schon einmal der Meinung sind, sie ständen den „Elitestaaten“ der Welt vor, dies übrigens Ausdruck einer alten „Gemütslage“[2], tatsächlich um demokratische Staaten[3], wäre genau das nicht möglich: weder das Etablieren des Neoliberalismus’ noch sein Re_etablieren nach seinem offensichtlich erneuten Scheitern. Denn, was ist der Neoliberalismus? Nichts anderes als das durchtheoretisierte Update des alten Profitsystems, unter Verwendung gewisser Regeln, die es erlauben, Demokratie zu simulieren. (_Was gemeint ist und wo das Problem liegt, wird hier deutlich._)

Ich finde es übrigens fahrlässig, den Eindruck zu erwecken, demokratische Staaten würden richtig verstandenen gesellschaftlichen Fortschritt verhindern! Nun, die vom Realsatirismus Befallenen sehen das offenbar anders.

Den anderen Aussagen von Friederike Spiecker kann ich übrigens nicht nur zustimmen, sondern ich bin auch davon überzeugt, daß sie in einer tatsächlich demokratischen Gesellschaft zügig umzusetzen wären.

Daß die gesellschaftspolitischen Verhältnisse andere sind, eben lobbykratische, weiß ich nicht erst seit heute, aber mich interessiert einzig, ob eine Vorstellung, die eine konstruktive gesellschaftspolitische Entwicklung auszulösen verspricht, an sich utopisch ist oder nur deshalb nicht realistisch ist, da die bestehenden, d.h. die lobbykratischen Verhältnisse ihre Umsetzung verhindern. Denn daß solche an sich realistischen Vorstellungen in die Praxis umgesetzt werden, hängt ja sowieso von der Masse der Menschen ab, hingegen weder vom Weihnachtsmann noch von den Tamtam-Parteien in den Lobbykratien dieser Welt. Und daß die mit Intellektuellen allein nicht umsetzbar sind, ist auch eine Binsenweisheit, und zwar schon deshalb, da die meist auf der falschen Seite stehen — sie erhalten immerhin i.d.R. in Bildungsinstitutionen ihre bewußtseinsmäßigen Prägungen, deren Curricula die studentisch zu beschreitenden Denkbahnen systemkonform vorprägen, was dem schnellmerkenden Opportunisten karrieregebende Orientierung ist.

Man darf sich eben keinen Illusionen hingeben und glauben, daß mit dem existierenden System eine gesellschaftspolitische Richtung auszulösen wäre, die tatsächlich als flächendeckend konstruktiv bezeichnet werden könnte. Wer das glaubt, hat in den letzten dreißig Jahren überall hingeschaut, nur nicht dorthin, wo es notwendig gewesen wäre. Und da das so ist, ist der Realsatirismus sogar als folgerichtiges Entwicklungsprodukt des lobbyklratischen Systems zu bezeichnen.[4]



© Joachim Endemann (_EndemannVerlag_)


_1 Zu dadaistisch-surrealen Phänomenen siehe hin: Die tri_logische Sezierung des lobbykratischen Zeitalters, Band II, die Seiten 29-32, beginnend mit: „Dadaismus ≠ Dada = Neoliberalismus“.
Zum Problem des Nationalstaates, siehe in: Die tri_logische Sezierung des lobbykratischen Zeitalters, Band I, Teilbände 1-3, Kapitel 13: — Die Welt als „Hinterhof“ der Machteliten oder Der Nationalstaat als grundlegendes Problem für Frieden; Kapitel 15: — Menschenrechte, Völkerrecht und das Konstrukt des Nationalstaates; Kapitel 16: — Die „Nationalitätenfrage“, die Ukraine und die „Elite“ des „Westens“, Kapitel 17: — Die „Nationalitätenfrage“, die Ukraine und die „Elite“ des „Westens“: Ein Resümee.
Daß dieses Problem durch politische Entitäten à la EU alles andere als aufgehoben wird, verdeutlicht das Kapitel 18 des genannten Buches: — Eine kurze Beschäftigung mit der Frage nach der neoliberalen Strategie des „Westens“ und der Funktion seiner Medien bei der Vermittlung dieser Strategie.
In: a.a.O., Band III: „Ich stimme nicht zu!“ Gesellschaftspolitische Lesungen über den Neowilhelmoliberalismus und seine Konsequenzen, Teilbände 1+2, ist das sich aktuell Ereignende auf dem Weg in die Düsternis vorweggenommen.

_2 Siehe hierzu das Kapitel 7 von: «Ist der Monotheismus ein elementarer Faktor der Gewalt?».

_3 Der Hintergrund für das notwendig zu Tuende sowie für das notwendig zu Tuende selbst, finden sich ausformuliert in: Die tri_logische Sezierung des lobbykratischen Zeitalters, Band ITeilband 4.
Was zur praktischen Umsetzung gehört und warum, findet sich in:  Sie fragen noch, wie die «Verhältnisse» liegen? erläutert, nämlich insbesondere in Aspekt 2: „Was eine Passage in Chestertons: ‘The Man who was Thursday: A Nightmare’ offenbart“, und auf den Seiten 337 ff., beginnend mit: „folgendes ist keine politische Geschmacksfrage“, sowie auf der Seite 669, beginnend mit: „Also sei zum Abschluß nicht allein die Frage wiederholt: Was spricht noch gegen Direkte Demokratie, spricht nichts für die simulierte Demokratie des lobbykratischen Systems …[…]?“.

_4 Wo die Hebel anzusetzen sind, um die bestehenden Staaten zu veritablen demokratischen Staaten umzubauen, siehe das Manifest: Le rayon des Lumières — Quelques remarques sur «l’Empire de la paix» orwellien, nommé l’UE.